Gesellschaftspolitische Matinee

Der Anwaltsverband Baden-Württemberg veranstaltet im Frühjahr eines Jahres eine "Gesellschaftspolitische Matinee" zu der er die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen zur gemeinsamen Diskussion einlädt. Ziel ist, die Sichtweisen der anderen Interessenvertreter kennenzulernen und auch die anwaltliche Betrachtungsweise einzubringen. Der Anwaltsverband widmet sich so jährlich einem aktuellen Thema, dass er für die rechtspolitische Debatte in der Gesellschaft für relevant hält. Es soll z. B. besprochen werden, ob gesetzliche Regelungen noch zeitgemäß sind und wohin zukünftige Entwicklungen gehen könnten. Dazu lädt er regelmäßig Experten unterschiedlicher Fachrichtungen ein, an die die Zuhörer auch Fragen stellen und mit ihnen in den Erfahrungsaustausch eintreten können.  

 

 

Gesellschaftspolitische Matinee 2024

Die nächste Gesellschaftspolitische Matinee wird am 08. Mai 2024 in Stuttgart stattfinden zum Thema „KI in der Justiz und bei Anwälten – wie wird sich die Tätigkeit – auch für berichtende Journalisten – verändern?“

Moderieren wird Frau Staatsanwältin Melodie Parva, Bundessiegerin bei "Jugend debattiert" 2012. Diskutanten auf dem Podium werden sein

- Herr Dr. André Meyer-Vitali, Forschungsbereich Agenten und Simulierte Realität, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, DFKI Saarland

- Herr Staatsanwalt Richard Hu, Referat für Information und Kommunikation, Ministerium der Justiz und für Migration BW

- Herr RA Cornel Pottgiesser, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht, Vorsitzender des Anwaltvereins Esslingen

- Herr Peter Welchering, Journalist für Deutschlandradio, ZDF und FAZ, Lehrbeauftragter an Journalistenschulen  

ausführliche Einladung und Anmeldung hier

 

Gesellschaftspolitische Matinee 2023 - Bericht

Am 4. Mai 2023 konnte RAin Irene Meixner, Vorstandsmitglied des Anwaltsverbandes BW und Vorsitzende des Anwaltvereins Schwäbisch Gmünd, bei schönstem Frühlingswetter die rund 50 Teilnehmer der „Gesellschaftspolitischen Matinee“ in Stuttgart begrüßen. Sie verwies einleitend auf das jüngst angekündigte Geständnis des Herrn Stadler und fragte, wie ein entsprechender Deal wohl auf die normale Bevölkerung wirken würde.
Unter den Gästen befanden sich u. a. Gerichtspräsidenten mehrerer Gerichtszweige, Kammerpräsidenten, Vorsitzende der örtlichen Anwaltsvereine, Gerichtsvollzieher, Übersetzer, Vertreterinnen der Berufsgenossenschaft, der Landeszentrale für politische Bildung oder von Gewerkschaften.
Die Podiumsdiskussion wurde vom SWR-TV-Moderator Sven Rex eröffnet. Der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte BW, Herr VRiOLG Wulf Schindler, berichtete von seinem Alltagsfrust, z. B. bei der Funktionsweise der IT oder erbosten Briefen von Bürgern, die mit dem Rechtssystem unzufrieden sind. Er zeigte Verständnis für die teils skandalisierende Berichterstattung über Gerichtsverfahren durch verschiedene Medien, wünschte sich aber eine seriösere Berichterstattung.
Der Chefredakteur der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), RA Tobias Freudenberg, ärgere sich im Alltag eher über versäumte Abgabefristen von Autorenskripten, berichtete aber auch von den Mühen, die Geschäftsstellen der Gerichte zu erreichen, etwa, um zu erfahren, ob ein Urteil nun rechtskräftig geworden sei.
Herr Michael Sommer vom Institut für Demoskopie Allensbach, der als Projektleiter des jährlich erscheinenden ROLAND Rechtsreports fungiert, stellte heraus, dass die Bevölkerung vor allem dann unzufrieden sei, wenn man ihre Freiheitsrechte stark beschränke. Aktuell verstünden die Bürger die von der Regierung forcierte Energiewende-Politik, etwa zum Heizungstausch, nicht. Dies führe nicht aus Sympathie aber aus Frust zu potentiellen Wählerzuwächsen bei der AfD. Derzeit liegen entsprechende Meinungsumfragen bei 17% für diese Partei, vor allem in den neuen Bundesländern. Dies sei auf Zukunftssorgen zurückzuführen, z. B. auch angesichts der derzeitigen hohen Inflation. Das Grundgesetz oder Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts würden in Deutschland auf eine hohe Akzeptanz stoßen, deutlich mehr als in anderen westlichen Staaten.

Herr Rex kam auf die aktuell veröffentlichte Studie des BMJ zu sprechen, die einen deutlichen Rückgang von zivilgerichtlichen Klagen in den letzten Jahren konstatierte. Herr Freudenberg führte dies vor allem wegen Kostenrisiken und Verfahrensdauern auf die drohende Unwirtschaftlichkeit zurück.

Der Generalstaatsanwalt Achim Brauneisen verwies auf Bewertungen des Europarats. Danach hätte Deutschland das zweitbeste Rechtssystem nach Norwegen. Gut seien Spezialisierungen, etwa eigene Kammern für Versicherungsrecht oder Fiskalfragen. Die langen Verfahrensdauern seien vor allem auf Personalmangel zurück zu führen.

Herr Schindler sprach den Aspekt der Vorhersehbarkeit eines Prozessergebnisses an. Ein Richter müsse die Entscheidungsgrundlage aufgrund streitigen Prozessvortrags ermitteln. Bei der heftigen Gesetzgebungstätigkeit in den letzten 20-30 Jahren sei es schwer, den Überblick zu behalten. Hinzu kämen viele offene Wertungsbegriffe, die vom Gericht ausgefüllt werden müssten. Auch seien die Lebenssachverhalte komplexer geworden. Immer mehr Parteien hätten sich auch vorab schon gut im Internet informiert.

Herr Freudenberg forderte, den Prozessparteien derartige Umstände besser zu erklären, z. B. wenn jetzt schon für 2024 terminiert werde. Seiner Meinung nach sei das Vertrauen ins Rechtssystem hoch, nehme aber ab.

Dem widersprach Herr Sommer. Bei einzelnen Aspekten, wie dem, dass reichere Leute sich mehr Anwälte leisten könnten, sei der Vertrauensverlust nachzuvollziehen. Bei der angesprochenen BMJ-Studie vermisse er Erklärungen für die Ursachen. Die angesprochenen Phänomene seien eigentlich schon seit Jahren bekannt.

Herr Brauneisen vermutete, dass sich die Streitkultur ändere. Für den Betroffenen sei wichtig, wer seinen Fall entscheide. Die Bürger seien auch selbstbewusster geworden. Die Gewaltenteilung funktioniere, wie die Entscheidungen aufgrund der Corona-Pandemie seit Frühjahr 2020 gezeigt hätten.

Herr Schindler bestätigte, dass insbesondere die Verwaltungsgerichte schnell und effizient gearbeitet hätten. Dem schloss sich Herr Freudenberg an. Man sei nach einigen Startschwierigkeiten recht schnell fähig gewesen, Videoverhandlungen durchzuführen.

Herr Sommer erläuterte, dass es der Bevölkerung wichtig gewesen sei, dass die politischen Entscheidungen von Gerichten überprüft werden. Problematisch sei die Berichterstattung der Medien gewesen, weil sich schwer ausmachen ließ, wo es Mehrheiten und wo Minderheiten, gebe, z. B. im Hinblick auf die Querdenker. Schwierig sei auch die Uneinheitlichkeit von Regelungen der Länder und Kommunen gewesen.

Herr Brauneisen warf ein, dass jede Redaktion so ihre Tendenzen habe, wie man aktuell an der Berichterstattung über den Prozeß gegen den Inspekteur der Polizei Herrn Renner sehe. Zum „Stadtler-Deal“ müsse man wissen, dass so etwas in der StPO vorgesehen sei und das Verfahren beim Landgericht München bereits 2,5 Jahre dauere. Herr Stadler habe bereits 4,5 Monate in Untersuchungshaft gesessen und man könne ihm wohl nur einen Betrug durch Unterlassen vorwerfen. Hier sei ein Strafmaß von 1 Jahr und 10 Monaten bis 2 Jahre auf Bewährung zu erwarten. Die Justiz müsse solche Mechanismen erklären.

Herr Schindler gab zu Bedenken, dass Richter eigentlich nicht dazu da seien, etwas medial aufzuarbeiten. Manche Parteien wollten dies auch nicht. Es sei deswegen gut, dass zwischen erkennendem Richter und Gerichtssprecher getrennt werde. „Absprachen“ müssten öffentlich bekannt gemacht werden.

Herr Freudenberg ergänzte, dass viele Zeitungen unter enormen Kostendruck stünden. Viele Lokalredaktionen verfügten über keine juristische Expertise mehr.

Herr Rex kam auf den Fall der von 12-jährigen Mädchen getöteten Luise zu sprechen. Überall werde nun über eine Absenkung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre gesprochen.

Herr Brauneisen führte aus, dass er hier das Jugendamt in der Verantwortung sehe. Dies hätte z. B. auch die Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung. In den USA gebe es einzelne Bundesstaaten, in denen die Strafmündigkeit schon bei 6 bis 7 Jahren läge. Er wolle keine Spirale nach unten, etwa wenn ein mehr als 11-jähriger zum Täter würde. In Deutschland gehe man vom „Schuldstrafrecht“ aus. 14-Jährige seien seines Erachtens noch nicht so weit entwickelt. Bisher gebe es nur sehr wenige Fälle.

Herr Schindler stimmte dem weitgehend zu und sprach sie für die Möglichkeit genauer Abwägung aus.

Herr Freudenberg sprach das allgemeine Gerechtigkeitsempfingen an. Dies könne sich durch gesellschaftliche Entwicklungen verändern. Im Fall Luise habe die Justiz gut kommuniziert, sich insbesondere nicht auf politische Diskussionen eingelassen.

Herr Sommer stellte dar, dass die Bevölkerung sich überwiegend für eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre ausspreche. Die „innere Sicherheit“ sei immer ein Sorgenthema. Der Bürger wolle, dass der Staat sich schützend vor ihn stelle.

Rechtsanwalt Doumanidis berichtete in der anschließenden Diskussionsrunde von seinen Erfahrungen beim Erklären von Prozessabläufen für Mandanten. Er beobachte, wie Egozentrik zugenommen habe.

Herr Freudenberg bestätigte die wichtige Filter- und Erklärfunktion von Rechtsanwälten. Auch dies sei ein Ergebnis der aktuellen BMJ-Studie.

Frau Barth von der Landeszentrale für politische Bildung BW sehe, dass die Leute sich zunehmend über alles Mögliche empörten. Die Politik sei bürgernaher als früher geworden. Die Menschen wollen nun mehr mitreden. Sie sehe die Auseinandersetzungen eher positiv, weil sie zeigten „wir sind wach“. Im Fall des Querdenker-Anführers Herrn Ballweg habe sie sich auch gefragt, ob 9 Monate Untersuchungshaft noch vertretbar seien.

Herr Brauneisen teilte die Einschätzung, dass der Rechtsstaat doch eigentlich gut funktioniere. Man habe nun Probleme mit der zunehmenden Digitalisierung, die zu zeitweisen Arbeitsausfällen führe.

Verdi-Landesbezirksleiter Gross bestätigte das Erklärbedürfnis, etwa hinsichtlich tariflicher Ausschlussfristen. Angesichts des Fachkräftemangels würden Arbeitgeber Mitarbeiter bei Fehlverhalten derzeit nicht so hart sanktionieren wie noch vor ein paar Jahren.

Rechtsanwalt Borchardt meinte, durch die Einführung der außergerichtlichen Einigungsgebühr bei der Umstellung von der BRAGO auf das RVG sei der Anreiz für Anwälte größer geworden, weniger Fälle zu Gericht zu tragen, etwa bei Nachbarschaftsstreitigkeiten.

Der parlamentarische Berater der CDU-Landtagsfraktion Herr Dr. Das erläuterte, dass nur 3-5% der Verfahren gegen Corona-Schutz-Maßnahmen erfolgreich gewesen seien. Kinder und Jugendliche hätten keine ausreichende Lobby gehabt. Die Gesellschaft wolle nun aber keine Neutralität mehr, etwa von Gerichten. Viele fühlten sich moralisch überlegen, wie die Klimaaktivisten.

Herr Freudenberg sprach den Zielkonflikt an. Die Justiz sei nun einmal an Recht und Gesetz gebunden.

Herr Brauneisen vertrat die Ansicht, die Justiz könne nicht neutral sein. Jeder Richter habe auch seine Prägung. So sei in Freiburg entschieden worden, dass Klimaaktivisten keinen Nötigungstatbestand erfüllten während in Heilbronn dazu entschieden wurde, dass es Haft für 4 Monate auf Bewährung gebe. Die Richter müssten werten dürfen.

Rechtsanwalt Röthemeyer sprach die derzeitigen physischen Barrieren beim Zugang zum Gerichtsgebäude an. Die wöchentlichen Sprechzeiten seien so kurz, dass kaum einer sie schaffen könne, etwa um einen Antrag auf Beratungshilfe zu stellen.

Herr Schindler führte dies auf nur mit Teilzeitkräften besetzte Geschäftsstellen zurück. Zudem würde das Personal vermehrt im Home-Office arbeiten.

Nach dem Ende des vielseitigen Erfahrungsaustauschs konnte die Veranstaltungsteilnehmer ihre Gespräche noch in geselliger Runde fortsetzen.

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